Betül

Wie ist es, wenn plötzlich nichts mehr ist wie zuvor und alle Lebenspläne dahin sind? Betül weiß es genau. Als die Lehrerin aus der Türkei 2016 mit einem Besuchsvisum zu ihrem Mann Sabit nach Deutschland reisen wollte, wurde am Flughafen ihr Pass eingezogen. Ihr Vergehen: Sie hatte eine Smartphone-App installiert, deren Nutzung die türkische Regierung kurz zuvor für strafbar erklärt hatte. Um einer Verhaftung zu entgehen, entschloss sich die junge Frau kurzerhand zur Flucht. Über Griechenland gelangte sie nach einigen Mühen nach Deutschland – und wusste: Auf absehbare Zeit konnte sie nicht mehr zurück. Dabei hatte sie mit Sabit, der 2003 zum Studieren nach Deutschland gekommen war, in der Türkei ein gemeinsames Leben aufbauen wollen. Stattdessen fand sie sich nun in einem Land wieder, dessen Sprache sie nicht sprach und in dem sie ihren Beruf nicht ausüben konnte.

»Ich musste völlig bei null anfangen«, sagt Betül heute in hervorragendem Deutsch. Und diesen Neustart hat sie eindrucksvoll gemeistert. Dabei geholfen hat ihr der starke Wunsch nach Unabhängigkeit, aber auch ihr Mann, der bei Schwierigkeiten nicht gleich die Kohlen für sie aus dem Feuer holte. Sehr hilfreich bei der Integration waren auch Angebote wie die meist ehrenamtlich betriebenen Sprachcafés. Dazu müssten Lernwillige aber selbst aktiv werden und den Kontakt suchen, betont Betül.

Inzwischen hat sie einen Rollenwechsel vollzogen: Nach einer Weiterbildung berät Betül heute als Sozialarbeiterin selbst Hilfe suchende Menschen, vor allem Frauen, die sich auf dem Arbeitsmarkt schwertun. Dabei profitiert sie auch von ihren eigenen Erfahrungen. Dass diese weiterhin traumatisch sind, spürte sie schmerzlich bei den Berichten über rechtsextreme Deportationspläne im Januar 2024. »Ich fühle mich zugehörig«, sagte Betül, die seit zwei Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit hat, »doch plötzlich stellst du dir die Frage: Muss ich jetzt wieder die Koffer packen?«. Aber so schnell lassen sich Betül und Sabit nicht entmutigen. Vor Kurzem haben sie ein renovierungsbedürftiges Haus gekauft. Und auch beruflich sucht Betül neue Perspektiven und plant eine Weiterbildung zur systemischen Beraterin.